Wie in einer stillen Nacht ein Lied geboren wird

Das Gedicht, das der Hilfspfarrer Mohr dem Lehrer gegeben hat, hat sechs Strophen. Es beginnt ganz romantisch mit der Beschreibung der heiligen Familie, um in der dritten Strophe plötzlich von Jesus als Mensch zu berichten, der dann in der vierten Strophe wie ein Bruder alle Völker in die Arme schließt. Der Lehrer Gruber seufzt tief und denkt an die vielen Toten und Verwundeten, die die Feindschaften vergangener Jahre hinterlassen haben.

Franzosen gegen Österreicher, Bayern gegen Tiroler und der Klerus gegen alle. Wer sich da auskennen soll, das fragt er sich schon. Die fünfte Strophe erzählt, dass ohne Grimm Versöhnung möglich ist. Dann endet das Lied ganz romantisch bei den Hirten, die das Halleluja der Engel hören.

Der Lehrer Gruber hat die Augen geschlossen, eine Melodie aus seiner Kindheit vermischt sich mit den Klängen aus der nahen Kirche. Dort sind die Frauen dabei, den Raum festlich zu schmücken, für die Armen und Alten wird es Kletzenbrot und warmen Tee geben. Auch die Kinder sind mit dabei, sie wiederholen immer wieder die Verszeilen, die sie nachher aufsagen werden.

Etliche Stunden später, es ist inzwischen Mitternacht, ist die Nikolauskirche in Oberndorf hell erleuchtet, alle Kerzen brennen. Am Seitenaltar liegt ein hölzernes Jesuskind in einer Krippe, daneben lässt erstmals ein geschmückter Christbaum die Herzen höher schlagen. Und dieses Jahr sind nicht nur die stolzen Schifferfamilien in der Christmette, auch die „Einleger" sind da. Heuer feiern alle Oberndorfer gemeinsam, die Reichen und die Armen.

Und gemeinsam hören sie das Vorspiel auf der Gitarre, leise und eindringlich. Dann singt der Hilfspfarrer Mohr mit seinem schönen kräftigen Tenor die ersten Zeilen, der Bass vom Lehrer Gruber untermalt die einfache, aber wunderbar fließende Melodie. Einige flüstern noch „Warum spielt denn die Orgel nicht?", aber bald ist es mucksmäuschen still.

Weil ein Lied den Oberndorfern die Herzen geöffnet hat, sie alle empfinden eine tiefe Sehnsucht nach Frieden. - Ohne auch nur zu ahnen, dass dieses Lied 190 Jahre später in unzählige Sprachen übersetzt in uns allen dasselbe auslöst.

https://www.stillenacht.info/audio-podcast/24_Geburt_eines_Liedes_vwq9z.mp3